BGH Urteil: Kein Schmerzensgeld bei lebensverlängernden Maßnahmen

In dem aktuellen Fall hatte der Bundesgerichtshof (BGH) am 02.04.2019 darüber zu entscheiden, ob ein Arzt dafür haftbar gemacht werden kann, dass er das Leben eines unheilbar kranken Patienten weiterhin verlängert hat, anstatt das Therapieziel zu ändern und die Beendigung der lebenserhaltenden Maßnahmen zuzulassen. Der BGH hat nun das Urteil (VI ZR 13/18) veröffentlicht:

Dem Kläger steht kein Anspruch auf Schmerzensgeld zu, weil das Leben als hohes Rechtsgut von der Rechtssprechung nicht als Schaden bewertet werden kann.

Kann ein Arzt für eine Lebenserhaltung mit Schmerzensgeld belangt werden?


Der Fall: Der Kläger hatte den behandelnden Arzt seines mittlerweile verstorbenen Vaters auf Schmerzensgeld und Ersatz für Behandlungs- und Pflegekosten verklagt. Der Sohn war der Ansicht, dass das krankheitsbedingte Leiden seines Vaters fast 2 Jahre lang sinnlos verlängert worden ist.

Der an Demenz erkrankte Mann war seit 2006 über 5 Jahre lang künstlich ernährt worden. Er war bewegungs- und kommunikationsunfähig. In den letzten beiden Jahren seines Lebens kamen Lungenentzündungen und eine Gallenblasenentzündung dazu. Die Lebenserhaltung des Mannes war ab dem Jahr 2010 medizinisch nicht mehr indiziert. Der Arzt wäre nach der Meinung des Sohnes verpflichtet gewesen, das Therapieziel zu ändern und eine Beendigung der lebensverlängernden Maßnahmen zu ermöglichen. Darüber hinaus hätte der Arzt zusammen mit dem gesetzlichen Betreuer und dem Sohn klären sollen, was im Interesse seines Patienten gewesen wäre.

Die Vorinstanz (Oberlandesgericht München) hatte dem Sohn 40.000 € Schmerzensgeld zugesprochen. Das OLG begründete dies seinerzeit damit, dass der Arzt eine mögliche Umstellung auf eine rein palliative Versorgung mit der Folge eines alsbaldigen Todes des Patienten besonders gründlich mit dem Betreuer hätte erörtern müssen. Da dies nicht geschehen ist, war das OLG der Auffassung, dass die aus dieser Pflichtverletzung resultierende Lebensverlängerung einen Schaden im rechtlichen Sinn darstellt.

Nachdem beide Parteien Revision eingelegt hatten, kam es am 12.03.2019 zur Verhandlung vor dem Bundesgerichtshof und zur Urteilsverkündung am 02.04.2019

Das Urteil des Bundesgerichtshofs: Kein Schmerzensgeld


Dem Kläger steht kein Anspruch auf Zahlung eines Schmerzensgeldes zu. Dabei sei es nicht relevant, ob der Beklagte Pflichten verletzt hat. Der BGH begründet sein Urteil damit, dass es an einem immateriellen Schaden fehlt. Dafür hätte der BGH den Zustand bei Aufrechterhaltung der Lebenserhaltung dem Zustand bei Abbruch der künstlichen Ernährung gegenüber stellen müssen – also das Leben gegen den Tod – und daraus einen Schaden ableiten müssen. Das BGH begründet weiter, dass das menschliche Leben ein höchstrangiges Rechtsgut und absolut erhaltungswürdig ist. Deshalb verbiete es sich, das Leben – auch ein leidensbehaftetes Weiterleben – als Schaden anzusehen. Und das auch für den Fall, dass gegen den Willen des Patienten eine lebenserhaltende Maßnahme aufrecht erhalten wird.

Das Urteil birgt ein hohes Risiko, missverstanden zu werden


Wenn der BGH hier kein Schmerzensgeld gegen den Arzt verhängt, wird dies damit begründet, dass es sich generell für die Rechtssprechung verbietet, das Leben als Schaden zu bewerten. Der BGH spricht in der Urteilsbegründung wohl auch bewusst davon, dass für diese Entscheidung nicht in Betracht gezogen worden ist, ob der Arzt Pflichten verletzt hat.

Zusätzlich gilt es zu betonen, dass in diesem Fall keine Patientenverfügung vorgelegen hat. Hätte eine rechtswirksame und konkret formulierte Patientenverfügung vorgelegen, wäre der Fall nie bis vor den BGH gekommen. Der Arzt und der Betreuer hätten den in der Patientenverfügung formulierten Wünschen nachkommen müssen.

Die Bedeutung des Patientenwillens wird also keineswegs in Frage gestellt! Dafür ist die gesetzliche Grundlage auch unstrittig:

1901b (1) Der behandelnde Arzt prüft, welche ärztliche Maßnahme im Hinblick auf den Gesamtzustand und die Prognose des Patienten indiziert ist. Er und der Betreuer erörtern diese Maßnahme unter Berücksichtigung des Patientenwillens als Grundlage für die nach § 1901a zu treffende Entscheidung.

Gibt es für Ärzte eine absolute Pflicht zur Lebenserhaltung?


Diese Frage ist mit einem klaren Nein zu beantworten. Dies ist schon lange von der Rechtssprechung beantwortet (BGH 1 StR 357/94 – Urteil vom 13. September 1994). Auch in den Grundsätzen der Bundesärztekammer zur Sterbebegleitung ist zu lesen:
Ein offensichtlicher Sterbevorgang soll nicht durch lebenserhaltende Therapien künstlich in die Länge gezogen werden. Darüber hinaus darf das Sterben durch Unterlassen, Begrenzen oder Beenden einer begonnenen medizinischen Behandlung ermöglicht werden, wenn dies dem Willen des Patienten entspricht. Dies gilt auch für die künstliche Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr.

Ein würdevolles Sterben ist also zweifelsohne unter Einhaltung aller gesetzlichen Vorschriften und ärztlichen Leitlinien heute jederzeit möglich. Und das ist auch nicht durch das Urteil des BGH in Frage gestellt worden.

Warum kommt es dann doch immer wieder zu Problemen in der Anwendung dieser Gesetze und Richtlinien?


Nun könnte man denken, dass auf der Basis dieser Regelungen alles seinen richtigen Gang gehen sollte. Die Voraussetzungen dafür, dass ein Arzt das Therapieziel ändern und von intensivmedizinischen, lebenserhaltenden Maßnahmen absehen kann, sind jedoch nicht immer zweifelsfrei gegeben. Und entscheidet sich der Arzt ohne ausreichende Grundlage für eine palliativmedizinische Therapie, kann er hierfür ebenso zur Rechenschaft gezogen werden.

Um dem Arzt für sein Handeln rechtliche Sicherheit zu geben, geht es im Kern immer um die Ermittlung des Patientenwillens. Dabei hängt es von den persönlichen Wertevorstellungen eines jeden einzelnen Menschen ab, welche Lebenssituation er mit welcher Lebensqualität bewertet und welche intensivmedizinischen Maßnahmen er sich in Folge wünscht bzw. welche er ablehnt. Ist der Patient nun selbst nicht mehr in der Lage, diese Entscheidung zu treffen, muss sein Patientenwille ermittelt werden. Und liegt dann keine Patientenverfügung vor bzw. ist diese nur unklar formuliert, entsteht in der Interpretation dessen, was sich der Patient gewünscht hätte, genau die Unsicherheit, die immer wieder zu Uneinigkeit und Streitigkeiten führt.

Es liegt daher im Interesse aller Beteiligten Klarheit zu schaffen und insbesondere natürlich im Interesse des Patienten selbst, durch entsprechende Vorsorge seine Selbstbestimmung zu wahren.

Erfahren Sie hier, wer entscheidet und nach welchen Kriterien der Patientenwille ermittelt wird, wenn man selbst dazu nicht mehr in der Lage ist.

UPDATE VOM 29.04.2019

Die Urteilsbegründung stellt klar: Der Patientenwille ist maßgeblich


Die am 29.04.2019 veröffentlichte ausführliche Urteilsbegründung macht deutlich, dass das Urteil keineswegs als Freibrief für Ärzte zu verstehen ist, todkranke Patienten nach Belieben mit lebensverlängernden Maßnahmen zu behandeln. Vielmehr wird klar herausgestellt, dass die Selbstbestimmung und der Patientenwille zweifelsfrei im Gesetz als Grundrecht verankert ist.

Zitat aus der Urteilsbegründung VI ZR 13/18:
Mit dem Dritten Gesetz zur Änderung des Betreuungsrechts vom 29. Juli 2009 (BGBl. I S. 2286, sogenanntes Patientenverfügungsgesetz) wurde die Bedeutung des grundrechtlich geschützten Selbstbestimmungsrechts bei ärztlichen Maßnahmen von Patienten, die inzwischen einwilligungsunfähig geworden sind, in allen Lebensphasen und unabhängig von Art und Stadium der Erkrankung (§ 1901a Abs.3BGB) gestärkt. Danach bleibt auch nach Eintritt der Einwilligungsunfähigkeit der tatsächlich geäußerte oder mutmaßliche Wille des Patienten für die Entscheidung über die Vornahme oder das Unterlassen ärztlicher Maßnahmen maßgeblich.

Warum hat dies im aktuellen Fall nicht gegriffen?
  • Der Patient hatte keine Patientenverfügung erstellt
  • Der Patientenwille konnte auch auf anderem Weg nicht ermittelt werden  

Das Urteil stellt nicht in Frage, dass ein Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen geprüft werden muss


Dabei betont der BGH jedoch, dass eine Prüfung und Beratung zum Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen ausschließlich dazu dient, das Selbstbestimmungsrecht des Patienten zu wahren. Es ginge dabei nicht etwa um die Frage, das Erbe zu erhalten oder wirtschaftlichen Schaden abzuwenden. Und auch deswegen wird dem Kläger ein Anspruch auf Schmerzensgeld nicht zugesprochen.

Zitat aus der Urteilsbegründung VI ZR 13/18:
Eine etwaige Verpflichtung eines Arztes, den Betreuer eines einwilligungsunfähigen Patienten darüber aufzuklären, dass ein Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen in Betracht gezogen werden könnte, dient allein dem vom Betreuer wahrzunehmenden Selbstbestimmungsrecht des Patienten. Die Pflicht, die medizinische Indikation für lebenserhaltende Maßnahmen nicht fehlerhaft zu bejahen, hat den Zweck, zu verhindern, dass der Sterbeprozess unnötig belastet wird. Zweck der genannten Pflichten ist es hingegen bei der gebotenen wertenden Betrachtung nicht, wirtschaftliche Belastungen, die mit dem Weiterleben und den dem Leben anhaftenden krankheitsbedingten Leiden verbunden sind, zu verhindern.

Kein Zweifel: Vorsorgen wahrt Selbstbestimmung

 
  • Eine rechtzeitig erstellte Patientenverfügung ist für Betreuer und Arzt verpflichtend
  • Eine Patientenverfügung bewahrt Angehörige davor, den vermeintlichen Patientenwillen erfragen und erkämpfen zu müssen 

Warum es so wichtig ist, rechtzeitig vorzusorgen und was sollte ich dabei beachten?


Jeder kann durch Unfall, Krankheit oder Alter in die Lage kommen, wichtige Fragen der medizinischen Behandlung und Intensivpflege nicht mehr selbst regeln zu können. Eine rechtzeitige Vorsorge gewährleistet auch in solchen Situationen ein selbstbestimmtes Leben und erspart Ihren Angehörigen zusätzlichen Kummer und Sorgen. Treffen Sie Ihre Entscheidungen, so lange es Ihnen noch gut geht und entlasten Sie Ihre Angehörigen, wenn der Ernstfall eintritt.

Ungeachtet der Bedeutung und Tragweite beschäftigen sich die meisten Menschen ungern mit Fragestellungen zum Sterben und dem Tod. Die medizinische, ethische und rechtliche Komplexität der Thematik erfordert jedoch aufgrund der weitreichenden Auswirkungen eine möglichst frühzeitige und sorgfältige Auseinandersetzung und Abwägung. Über die Wahrung der selbstbestimmten Lebensführung und einem, gemessen am eigenen Anspruch,

würdevollen Sterben hinaus, können mit einer Patientenverfügung Angehörige in emotional ohnehin belastenden Situationen von schwerwiegenden Entscheidungen und Konflikten entlastet werden. Unvorhersehbare Situationen können übrigens jeden treffen. Deshalb ist eine entsprechende Vorsorge auch für junge Menschen und Familien wichtig.

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